Biografiearbeit – eine Anleitung zum Selbstcoaching

Was macht mich aus? Und was ist mir im Leben wichtig? Die Biografiearbeit gibt Antwort. Hier erkläre ich, warum die Rückschau unser zukünftiges Glück fördert. Am Ende gibt eine klare Anleitung für dich zum Download.

Sarah hat im Coaching ihre Biografie aufgezeichnet, von ihrem 13. Lebensjahr bis heute. Jetzt steht sie vor der zwei Meter langen Fieberkurve auf dem Boden und folgt den Linien, die sie mit einem dicken Stift gezogen hat. „1995 war echt ein Tiefpunkt, das darf mir nie wieder passieren“, sagt sie. Einsam in der Großstadt, kein Job, dafür Schulden. Ich frage: „Könnte es denn nochmal passieren?“

Sie schreitet ihr Leben ab, die Zeit nach 1995, ihre lange Beziehung, die vier Arbeitgeber, die seither kamen. Und lacht mich an: „Totaler Quatsch, dass mir diese Zeit immer noch im Nacken sitzt, heute würde ich es doch nie mehr so weit kommen lassen, damals war ich 19.“ Dieser Moment, in dem Menschen begreifen, wo sie im Leben stehen, was sie schon alles überwunden haben und wie stark sie sind, ist erhebend. Er ist einer der Gründe, warum ich so gern als Coach arbeite.

Wie mir selbst die Biografiearbeit half

Als ich vor ein paar Jahren selbst meine Biografiearbeit gemacht habe, hatte ich auch so einen Moment. Ich haderte damals damit, dass ich glaubte, zu sprunghaft zu sein: Vom Theater war ich in den Journalismus gewechselt, nun wollte ich Coach werden. Meine Freunde sagten: „Du bist die Expertin für Wechsel!“, ich konnte mich über dieses Kompliment nicht freuen.

In der Biografiearbeit erkannte ich durch das aufmerksame Nachfragen meines Ausbilders, dass es da sehr wohl Kontinuität gab, einen dicken roten Faden, der sich durch mein Leben zog: Es war meine Neugier auf Menschen – was treibt uns an und warum sind wir, wie wir sind?

Als Regisseurin war es mein Job, die Psychologie von Figuren sichtbar zu machen, als Journalistin darf ich fremden Menschen ungeniert Löcher in den Bauch fragen und jetzt als Coach würde ich ihnen helfen, sich selbst besser kennenzulernen. Na, wenn das keinen Sinn machte! Dieses Glücksgefühl trägt mich bis heute.

Fünf Gründe, warum ich die Biografiearbeit wichtig finde


1. Die große Erzählung gibt es nicht mehr, jeder schreibt seine eigene Geschichte

In den 50er Jahren ging ein gelungenes Leben ungefähr so: nach der Schule Ausbildung machen oder studieren, einen Job finden und darin am besten aufsteigen, heiraten, Kinder bekommen, Haus bauen, Erbe anhäufen. Okay, für Frauen reichte schon diese Version: zur Schule gehen, Mann finden, Kinder zeugen, aufziehen und den Haushalt führen. Will heute so keiner mehr. Aber wann kann man jetzt von sich sagen: Ich lebe ein gutes Leben? Die Biografiearbeit will bei der Sinnsuche helfen, nun, wo Religion und Gesellschaft kein „richtiges Leben“ mehr vorgeben.

Es gibt die Methode in unterschiedlichen Formen seit Mitte der 70er Jahre. Psycholog*innen, Coaches, Pädgagog*nnen und Sozialarbeiter*innen arbeiten mit ihr und sie wird immer gefragter. Denn Biografie, das ist mehr als ein Lebenslauf, es ist die äußere Geschichte und die innere seelische und geistige Entwicklung eines einzelnen Menschen. Unsere heutigen Identitäten sind brüchig, verschachtelt, widersprüchlich, die „Normalbiografie“ gibt es nicht mehr. Was für ein Glück, wir dürfen unser Leben selbst gestalten und ihm einen Sinn geben. Was für ein Unglück, denn wir haben meist keine Ahnung, an welchem Leitstern wir uns dabei orientieren sollen.

Bei der Biografiearbeit sortiere ich in der Rückschau auf mein bisheriges Leben das, was mir passiert ist, und erkenne eine Entwicklungsgeschichte darin. Ich erkenne, was ich brauche, um mich frei entfalten zu können und auch, was mich einengt und klein hält.

2. Beim Erinnern erfinden wir uns neu

Wen wir unsere Vergangenheit betrachten, tun wir das mit dem Wissen von heute. Automatisch bewerten wir Geschehenes anhand all der Erfahrungen, die wir seitdem gemacht haben. „Unser Gedächtnis ist kein Aufbewahrungsort für statische Archivakten”, sagt Douwe Draaisma, Professor für Psychologie in Groningen. „Schon während man eine Erinnerung zu Tage befördert, verändert sie sich. Durch die Stimmung, in der man sich dabei befindet oder durch eine neue Interpretation, die man der Erinnerung gibt. Danach wird sie in geänderter Form erneut gespeichert. Daher sollte man das Gedächtnis lieber mit einem Notizbuch vergleichen: Wir fügen ein Leben lang Dinge hinzu, streichen durch, radieren aus.“

Und so geht es bei der Biografiearbeit nicht um das Aufspüren einer objektiven Wahrheit, sondern um das Aktualisieren der Geschichte, die man sich und anderen über sich erzählt. Es geht darum, ein Bild von sich zu entwerfen, das einen trägt. Natürlich kann man in die Falle tappen, das Bild zu idealtypisch zu zeichnen. Deshalb ist es so hilfreich, die Biografiearbeit mit jemand anderem zu machen, der einen damit konfrontiert, dass auch das Gegenteil stimmen könnte, dass wir nur einen Teil der Wahrheit über uns im Blick haben.

Du bist Autor*in deines Lebens, hier eine kleine Fingerübung zwischendurch: Wäre dein Leben ein Roman, welchen Titel würdest du ihm geben? Schreibe eine kurze Inhaltsangabe für deine Leser (Als die kleine Sarah in der Großstadt....)
— Andrea Huss

3. Wer seine Fähigkeiten kennt, wird mutiger

In der Biografiearbeit sehen wir, dass aus ehemaligen Problemen immer Lösungen erwachsen sind. Dies schenkt uns Vertrauen in uns selbst und in unsere Lernfähigkeit. Psycholog*innen würden das ungefähr so ausdrücken: „Die Selbstwirksamkeit und die Fähigkeit zur Selbstregulation wird erhöht“. Die Beschäftigung mit vergangenen Krisen und Entscheidungspunkten zeigt: Du hast dein Leben in der Hand und du weißt ganz schön viel darüber, wie man sich selbst aus dem Schlamm oder dem Selbstmitleid zieht und dann weitergeht.

4. Wer seine Gegenwart begreift, kann seine Zukunft besser gestalten

Ein Bild aus der Schiffahrt passt hier sehr gut: Wer ein Ziel erreichen will, muss einen Kurs festlegen, dies kann man aber nur, wenn man seinen genauen Standort kennt. Wo komme ich her, wo stehe ich jetzt und wo will ich hin: In der Biografiearbeit findet man die Themenfäden, die von der Vergangenheit in die Gegenwart reichen und kann sie weiter für die Zukunft spinnen. Und man kann sich vornehmen, alte Knoten auf diesem Weg zu lösen. Experten betonen deshalb, wie wichtig der Dreiklang der Lebensrückschau ist:

1. Gewordenheit erkennen,
2. Eigenverantwortung übernehmen
3. Konsequenzen für den weiteren Lebensweg ziehen.

5. Jede Lebensphase hält bestimmte Lernaufgaben bereit

In der anthroposophischen Biografiearbeit wird das Eingebundensein in universelle Gesetzmäßigkeiten betont, die für alle Menschen gelten. Das Leben wird in Siebtel unterteilt, mit dem Gedanken, dass etwa alle sieben Jahre, also im Alter von 7, 14, 21, 28, 35, 42, 49, 56,…  etc. eine Umbruch- bzw. Wachstumsphase ansteht.

Dr. Susanne Hofmeister, die als Ärztin mit der Methode arbeitet, beschreibt unsere Biografie als das Errichten eines eigenen Zuhauses: „Stellen wir uns unser Leben als ein Haus vor, dann haben wir in den ersten drei Lebensabschnitten der Kindheit, Schulzeit und Jugend die drei Räume des Erdgeschosses bezogen und eingerichtet. Auf ihnen stehen wir unser ganzes Leben. Sie bilden unser Fundament und prägen unseren Umgang mit der Welt.“ In den 20ern und 30ern beziehen wir dann dann die Beletage. „In den Vierzigern können wir mit dem Dachausbau beginnen, Verantwortung für unser Leben übernehmen und unsere Lebensziele verwirklichen“, so Susanne Hofmeister.

Sie erlebt, dass es dann häufig zu einer Lebensmitte-Krise kommt. Die Frage „Wer bin ich eigentlich wirklich?“ drängt sich nach vorn, viele stellen ihr Fundament in Frage, fühlen sich beengt in den Rollen, die sie so gern in den 20er und 30ern angenommen haben. Das professionelle „Ich bin Architekt*in/Manager/Lehrer*in“-Ich reicht als Identitätsstifter nicht mehr aus. Es ist da dieses Verlangen, mehr von sich zu zeigen.

Die Biografiearbeit  bestärkt einen darin, fremde Erwartungen hinter sich zu lassen und nur aufs eigene Gefühl zu vertrauen. Es kann sein, dass wir unser Leben dadurch privat oder beruflich konkret verändern. Genauso oft bleibt aber faktisch alles beim Alten, nur schauen wir großzügiger und gelassener darauf. Ja, die Muster unserer Kindheit haben uns geprägt, aber jetzt können wir entscheiden, wie wir damit umgehen.


 

Wie geht Biografie-Arbeit?
Eine Kurzanleitung

Bei der Biografie-Arbeit schaut man in die Vergangenheit,
um zu erkennen, was einen motiviert hat und wo man besonders erfolgreich war.
Man sieht aber auch, wann es nicht gut lief und warum. Oft entdeckt man dabei einen roten Faden, der sich durchs eigene Leben zieht. 

Aus der Rückschau kann man ableiten,
was in der Zukunft Zufriedenheit und Erfolg bringt.

Starte jetzt mit deiner Biografiearbeit!

- Auf einem großen Blatt Papier oben einen Zeistrahl anlegen.
Startpunkt ist die Zeit, ab der wir uns konkret erinnern können.

- Blatt waagerecht in drei Bereiche aufteilen: „beruflich“, „privat“ und „Ich“.
Unter jede Lebensphase (individuell zu gestalten) stichwortartig bei beruflich und privat aufschreiben, was einen beschäftigt hat.

- Die jeweiligen Ereignisse in der Spalte „Ich“ nun in Bezug setzen zu den persönlichen Werten und Gefühlen.
Was fühlte sich gut an? Was fühlte sich nicht gut an? Welche Motive und Werte wurden gelebt oder blieben unbefriedigt? 


- Analyse der gesamten Biografie: Finden sich Gemeinsamkeiten in Situationen, wo wir zufrieden und erfolgreich waren?
Welche Motive und Werte wurden dort erfüllt? Was sagt das für meine Zukunft?

Andrea Huss